Brüderchen und Schwesterchen (Neufassung Erzählgeschichten)
Es war einmal ein Brüderchen und sein liebes Schwesterchen. Seit ihre Mama gestorben war, ging es ihnen gar nicht gut. Die neue Frau ihres Vaters, eine böse Stiefmutter, schimpfte immerzu und schlug die armen Kinder. Wenn sie Hunger hatten, bekamen sie nur harte Brotkrusten, während selbst der Hund unter dem Tisch besseres Essen bekam.
Eines Tages nahm Brüderchen die Hand seines Schwesterchens und sagte:
„Komm, Schwesterlein, wir laufen fort! Hier hält es ja keiner aus.“
Also gingen sie los. Über Wiesen und Felder, über Steine und durch kleine Bäche. Am Abend kamen sie müde und hungrig in einen großen, dunklen Wald. Dort fanden sie einen hohlen Baum und schliefen darin ein.
Am nächsten Morgen, als die Sonne goldene Strahlen durch die Bäume schickte, sagte Brüderchen:
„Ich habe so großen Durst! Ich glaube, ich höre ein Brünnlein plätschern.“
Aber die böse Stiefmutter war eine Hexe. Sie wollte den beiden unbedingt Böses und hatte alle Brunnen im Wald verzaubert!
Als sie das erste Brünnlein fanden, hörte Schwesterchen, wie es flüsterte:
„Wer von mir trinkt, wird ein Tiger! Wer von mir trinkt, wird ein Tiger!“
„Brüderchen, bitte trink nicht!“, rief sie. „Sonst wirst du ein wilder Tiger und zerreißt mich!“
Brüderchen nickte tapfer. „Ich warte bis zum nächsten Brunnen.“
Bald fanden sie eine zweite Quelle. Diese sang leise:
„Wer von mir trinkt, wird ein Wolf! Wer von mir trinkt, wird ein Wolf!“
„Ach Brüderchen, trink nicht, sonst wirst du ein Wolf und frisst mich!“
„Ich halte es noch ein wenig aus“, sagte Brüderchen. „Aber beim nächsten muss ich trinken, ich verdurste sonst!“

Dann kamen sie zur dritten Quelle, und sie flüsterte:
„Wer von mir trinkt, wird ein Reh! Wer von mir trinkt, wird ein Reh!“
„Oh Brüderchen, bitte, trink nicht!“, bat Schwesterchen, doch er konnte nicht mehr warten. Kaum hatte er einen Schluck genommen, verwandelte er sich in ein zartes Rehlein.
Schwesterchen weinte und streichelte das kleine Reh.
„Mein liebes Brüderchen, ich werde dich nie verlassen!“
Sie band ihm ihr goldenes Band um den Hals, flocht ein Seil daraus und führte ihn tief in den Wald. Dort fanden sie ein Häuschen, ganz leer und einsam.
Schwesterchen richtete alles gemütlich ein. Sie baute ein gemütliches Bett aus Moos und Laub, sammelte Beeren und Nüsse zum Essen, und für das Rehlein frisches, saftiges Gras. Jeden Abend legte sie ihren Kopf auf seinen Rücken und schlief friedlich ein.
Eines Tages aber kam der König mit seinen Jägern in den Wald. Sie bliesen die Hörner und riefen laut zur Jagd auf. Das Rehlein hörte es und sprang aufgeregt hin und her.
„Ach Schwesterlein, lass mich hinaus! Ich halte es hier drinnen nicht mehr länger aus!“
Das Schwesterlein ließ das Rehlein nur ungern ziehen, doch es sah ein, dass es sein musste.
„Aber versprich mir, dass du abends wiederkommst und weil ich Angst habe und nur dich hereinlassen mag, dann sag:
‚Mein Schwesterlein, lass mich herein!‘ Sonst öffne ich die Tür nicht!“
Das Rehlein versprach es und sprang fröhlich davon.
Die Jäger sahen es, wollten es fangen, doch es war flink wie der Wind!
Abends klopfte es brav an und rief:
„Mein Schwesterlein, lass mich herein!“
Und das Schwesterchen öffnete, freute sich und umarmte es.
Am nächsten Tag wollte es wieder hinaus. Doch dieses Mal verletzte ein Jäger es leicht am Fuß. Hinkend lief es heim, und Schwesterchen pflegte es gesund.
Ein Jäger aber hatte heimlich beobachtet, wohin das Reh lief und merkte sich den Spruch. Er erzählte es dem König. Der König wurde neugierig und kam selbst zu dem Häuschen.
Da das Rehlein am nächsten Tag gesund war und wieder hinauslief, blieb das Schwesterlein alleine zurück im Haus.

Dann am Abend klopfte es an der Türe und sprach:
„Lieb Schwesterlein, lass mich herein!“
Da öffnete das Mädchen die Türe und da stand vor ihr ein freundlicher König mit einer goldenen Krone. Er lächelte sie an und sagte:
„Willst du mit mir auf mein Schloss kommen und meine Frau sein?“
Das Schwesterchen freute sich und sprach leise:
„Ja, aber mein Rehlein, das muss mitkommen! Ich lasse es nicht zurück!“
„Natürlich“, sagte der König. „Es soll immer bei dir bleiben.“
Und so zog sie mit ihrem Rehlein ins Schloss. Sie feierten eine wunderschöne Hochzeit, und das Rehlein sprang fröhlich im Garten umher.
Doch die böse Stiefmutter glaubte, die Kinder seien tot. Sie dachte, das Mädchen wurde längst von den wilden Tieren getötet und das Reh von den Jägern totgeschossen.
Als sie hörte, dass das Mädchen nun Königin war, kochte sie vor Wut und schmiedete einen schrecklichen Plan.




